Binokularsehen

Augenbewegungen dienen dazu, beide Augen auf das Sehobjekt zu richten. Die Augen und das Gehirn haben dann die Aufgabe, die zwei wahrgenommenen Bilder so zu verarbeiten, dass ein beidäugiger (binokularer) Seheindruck entsteht. Binokularsehen ist der Überbegriff für jede Art beidäugigen Sehens, also für normales und anomales beidäugiges Sehen.
Seine drei Qualitätsstufen sind:

  1. Simultan­sehen
  2. Fusion
  3. Stereosehen

Binokularsehen setzt voraus, dass Bildeindrücke beider Augen gleichzeitig wahrgenommen werden (Simultansehen).
Ist das Gehirn darüber hinaus in der Lage, die Bildeindrücke beider Augen zu einem einzigen Bild zu verschmelzen, so spricht man von Fusion.
Die höchste Stufe des Binokularsehens, die Fähigkeit zur dreidimensionalen Wahrnehmung, ist die Stereopsis.

In der Praxis gibt es allerdings keine sauber voneinander getrennten Qualitätstufen des Binokularsehens. Stattdessen sind die Übergänge fließend. Es kommt zum Beispiel häufig bei Schielenden vor, dass die zentralen Bildbereiche nicht fusioniert werden, wohl aber die peripheren. Außerdem kann es sein, dass zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gutes Binokularsehen besteht, abhängig vor allem von der Augenstellung.

Schielformen, die im frühen Kindesalter auftreten, haben häufig von vorne herein bestehende Defekte des sensorischen Systems als Ursache. Häufig bestehen Störungen der Fusion (Verschmelzung der Bilder beider Augen). Hieraus kann sich dann das Schielen entwickeln. Als Anpassungsleistung an das Schielen entwickeln sich zusätzlich Veränderungen der retinalen Korrespondenz (Zuordnung der Netzhautstellen des normalen und des schielenden Auges zueinander).

Netzhautkorrespondenz

Blickt man einen Gegenstand an, so sind normalerweise jede Fovea (Stelle des schärfsten Sehens) der beiden Augen auf das Fixierobjekt gerichtet. Sie stellen miteinander korrespondierende Netzhautstellen dar. Diese Zusammenarbeit der Foveae bezeichnet man als normale Korrespondenz. Ebenso korrespondieren periphere Netzhautstellen miteinander. Die Hauptsehrichtungen beider Augen werden dadurch vom Gehirn als gleich angesehen. Tritt eine Schielstellung plötzlich, z.B. durch einen Unfall auf, so kommt es bei normaler Netzhautkorrespondenz zu Doppelbildern. Die Doppelbilder kommen dadurch zustande, dass derselbe Gegenstand in einem Auge foveolar, in dem anderen peripher abgebildet wird. Die Fähigkeit, Teile des Bildes eines Auges zu unterdrücken, bezeichnet man als Suppression. Diese Fähigkeit ist bei Kindern bei Änderungen der Augenstellung immer nach kurzer Zeit vorhanden. Dadurch wird bei einem neu aufgetreten Schielen nach kurzer Zeit nicht mehr doppelt gesehen. Diese Anpassungsleistung ist auch nützlich, wenn die Augenstellung durch eine Operation geändert wird.

Die anomale Netzhautkorrespondenz ist eine Anpassung an eine anomale Augenstellung, d.h. an ein Schielen. Die Fovea dies fixierenden Auges arbeitet dann mit einer peripheren Stelle des anderen Auges zusammen.

Bei einem einseitigen Schielen mit kleinem Winkel (<5°) können trotz anomaler Netzhautkorrespondenz Teile des Binokularsehens vorhanden sein. Wegen dieser Besonderheit hat man diese Schielform mit einer eigenen Bezeichnung versehen: Mikrostrabismus. Häufig haben diese Patienten Simultansehen. Im Bagolini-Schweifglastest wird ein Kreuz gesehen. Räumliches Sehen ist jedoch in der Regel nicht möglich. Außerdem kann es trotz des kleinen Winkels zu einer schweren Amblyopie kommen.

Für Patienten mit einem größeren Schielwinkel besteht das Ziel der operativen Behandlung darin, Parallelstand oder diesen kleinwinkligen Zustand zu erreichen. Tatsächlich lässt sich dann oftmals auch bei diesen Patienten Simultansehen, die erste Qualitätsstufe des Binokularsehens nachweisen. Das ist wiederum eine gute Voraussetzung für eine langfristig stabile Augenstellung.